Buchrezensionen

Blackout, Bauchweh und kein‘ Bock

Therapie und Coaching bei Prüfungsangst, Prokrastination und Leistungsdruck

von Timo Nolle, Carl-Auer Verlag 2021
Buchrezension von Martin Ritsch

Mag. Martin Ritsch

Und wieder schließt sich eine kleine Lücke auf der systemischen Theorie-Landkarte. Timo Nolle liefert einen systemischen Ansatz zum Thema Prüfungsangst und Leistungsdruck und bereichert damit ganz im Sinne eines problemspezifisichen Ansatzes ein aus der Praxis und für die Praxis geschriebenes Buch.

Gut strukturiert und übersichtlich eingeführt beschreibt er drei grundlegende Bereiche kurz umschrieben als Lerntechniken, Selbstregulation und Blockaden. Diese drei Bereiche reihen sich zwischen den Polen Nachhilfe und Psychotherapie ein und bieten dadurch eine gute Unterscheidung von unterschiedlichen Haltungen und Techniken, je nachdem ob ich mich im Feld der Pädagogik, der Beratung oder Psychotherapie aufhalte.

Um die drei Bereiche zu unterscheiden, verwendet er die „mit dem Stein auf den Kopf gefallen und dadurch angstbehindert“ -Variante der Wunderfrage, um herauszufinden, ob es um Angst oder fehlende Lerntechniken geht.

Grundlage oder der gemeinsame systemische Nenner bleibt dabei stets dieAusrichtung auf die Förderung der Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit. Im Zentrum steht die Ausrichtung auf Stärkung Autonomie, der Kompetenz und der sozialen Eingebundenheit als Grundbedürfnisse aller Menschen.

Es geht nicht um Erfolg, sondern um das Glück. Es geht nicht darum, das Letzte an Leistung rauszuholen, sondern die ersten 10%, um wieder leistungsfähig zu werden.

Und das Buch wäre nach Timo Nolle gar nicht nötig, wenn die Schule und unsere Gesellschaft anders funktionieren würde und Prüfungsangst und Leistungsblockaden oft gar nicht entstehen könnten.

Timo Nolle arbeitet sich im Buch systematisch durch die 3 Bereiche hindurch und veranschaulicht dabei die theoretischen Grundlagen mit Bezug auf wissenschaftliche Einsichten und deren praktische Anwendung.

So stehen am Anfang Lerntechnik und Strategien: hier leitet der Coach als Experte an, gibt konkrete Tipps und erarbeitet mit der Klient*in neue erfolgreiche Lösungen.

Im Bereich mentale Stärke und Selbstregulation steht der Coach beratend zur Seite, bietet Psycho-Edukation in der Bereitstellung von nützlichem Wissen über Angstreaktionen und körperliche Prozesse, die dem Ganzen zugrunde liegen.

Anschließend wendet er sich dem Bereich der Motivation und Blockaden zu, wo eine therapeutische Haltung empfohlen und eine neutrale Haltung in Bezug auf Erfolg eingenommen wird. Hier geht es dann speziell um die Themen Prograstination, Perfektionismus und Leistungsdruck in Abgrenzung zur Leistungserwartung.

Zwei Interventionen seien stellvertretend für die vielen Techniken und Anregungen genannt. Der Ambivalenz und Blockaden-Check (ABC) bietet– angelehnt an die Problem-Lösung-Aufstellung von Matthias Varga von Kibéd und Insa Sparrer – ein genau strukturiertes Aufstellungs-Format in 9 Schritten, um innere Blockaden und Konflikte zu erforschen und zu verändern. Die Imperativ-Transformations-Technik (ITT) hingegen stellt ein Vorgehen dar, subjektive dysfunktionale Imperative zu erkennen und in genau angeleiteten Schritten in sinnvollere und nützlichere Formen zu entwickeln.

Als systemischer Denker thematisiert Timo Nolle parallel auch immer die möglichen Wechselwirkungen der beschriebenen Bereiche und entwirft eine große Landkarte des Prüfungscoachings, die eine hilfreiche Orientierung für unterschiedlichste Anliegen und Kontexte bietet. Es gibt keine konstruktivistischen Einleitungsstatements, die dann nicht gehalten werden, das Systemische zieht sich als wertvolle Haltung durch das gesamte Buch. Man merkt dabei immer, dass er ein Praktiker ist, der sein Wissen und die Struktur aus seinen eigenen Erfahrungen im Coaching und der Therapien gewonnen hat. Das macht ihn auch sehr glaubwürdig.

Kritisch anmerken könnte man, dass der Bereich der Selbstregulation etwas zu kurz ausgefallen ist und sich dieser Bereich aus meiner Erfahrung doch in der Praxis oft komplexer und schwieriger darstellt. Hier hätte vielleicht ein Hinweis auf den Ansatz von Bernd Schumacher gutgetan, dass es nicht nur um Atemtechnik, sondern auch um die Idee des Kontrollverlustes durch dysfunktionale Kontrollversuche geht.

Nur begrenzt geeignet ist das Buch für Menschen, die Höchstleistungen bringen wollen. Es geht Tim Nolle ganz bewusst nicht um die Ausschöpfung der letzten 10% der Höchstleistung, sondern um die ersten 10 % der Leistungsfähigkeit.

Insgesamt kann ich festhalten, dass uns Timo Nolle mit seinem Buch eine praktische und wertvolle Einstiegshilfe in den Bereich des Prüfungscoaching geliefert hat. Vor allem ist es ihm gelungen, mich neugierig zu machen, in diesem Bereich zu arbeiten. Vielen Dank dafür!

„Ins Tun kommen – Prozess- und ressourcenorientierte Tools der Systemischen Therapie“

von Michael Schieche / Sabine Schreiber (Hrsg.) Klett-Cotta 2020
Buchrezension von Martin Ritsch

Ins Tun kommen – Prozess- und ressourcenorientierte Tools der Systemischen Therapie

Das Buch beginnt mit dem Versprechen, ein praxisnahes Wissen für die psychotherapeutische Praxis zu bieten, konkrete Werkzeuge vorzustellen, die direkt im therapeutischen Alltag eingesetzt werden können, dafür aber auf die theoretischen Hintergründe weitgehend zu verzichten. Dargestellt werden hauptsächlich Tools aus der Methodenkiste des lösungsorientierten und entwicklungsorientierte Ansatzes, wie sie  in der Münchner Schule mit dem Lebensfluss-Modell (vft) gelehrt werden.

Insgesamt zeichnet sich das Buch durch eine klare und übersichtliche Darstellung aus. Grundlagen wie die Auftragsklärung oder therapeutische Beziehungsarten (Kunden, Besucher, Klagende) sind gut ausgewählt und verständlich dargestellt. Klassische Methoden der lösungsorientierten Therapie wie die Wunderfrage werden ausführlich beschrieben und schrittweise erklärt. Ein gebührender Platz wird Virginia Satir eingeräumt, die ja als Begründerin der entwicklungsorientierten systemischen Familientherapie gesehen werden kann.

Zentral findet sich eine ausführliche Darstellung des Lebensfluss-Modells mit einer großen Würdigung von Peter Nemetschek, der dieses Modell eingeführt hat und dessen Grundsätze und Einsichten wesentlich die Grundhaltungen in diesem Buch prägen. Wer sich mit diesem Modell beschäftigen will findet hier zahlreiche Anregungen und Einsatzmöglichkeiten dieser Methode.

Konsequent an der systemischen Praxis orientiert werden auch die Methode der Genogrammgarbeit sowie die Arbeit mit Skulpturen nach Virginia Satir erläutert. Hinweis auf die Fortführung der Methode in der Aufstellungsarbeit bleibt aus, lediglich im Kapitel über die Familienrekonstruktion findet sich eine kurze Abgrenzung zur Aufstellungsarbeit nach Bert Hellinger. Die doch sehr verbreitete Anwendung der Aufstellungsarbeit, wie sie zum Beispiel auch von Varga von Kibed und Insa Sparrer entwickelt wurden, wird mit keinem Wort erwähnt, obwohl deren Institut syst auch in München beheimatet ist wie das vft.

Es folgen die Darstellung der Teile-Arbeit, die schon erwähnte Familienrekonstrukion, wieder verbunden mit dem Lebensfluss-Modell, sowie die Arbeit mit Paaren.

Die theoretische Ankoppelung an körperorientierten Methoden, HIrnphysiologie, hypnotherapetischen und narrativen Ansätzen wirkt dann etwas bemüht und zu kurz geraten. Generell wechseln sich in den Kapiteln unterschiedliche Methoden, Settings und spezielle Kontexte ab, das Ganze wirkt daher ein bisschen zusammengewürfelt, die theoretische Einordung in die große Welt der systemischen Therapie fehlt.

Die Praxisnähe des Buches spürt man dann darin, dass Themen wie Scheidung und Trennung in Hinblick auf die Schwierigkeiten für die Kinder – speziell dann auch noch mit dem Fokus auf Hochkonflikt-Eltern – ausführlich behandelt werden. Und auch hier werden wieder konkrete Interventionen und Vorgangsweisen beschrieben, die direkt im therapeutischen Alltag umgesetzt werden können.

Ein eigenes Kapitel widmet sich dem psychiatrischen Kontext. Hier wird hauptsächlich Bezug auf das Modell von Arnold Retzer genommen, speziell die Theorie der Exkommunikation und auch die Bedeutung der Neutralität beschrieben. Und auch in diesem Kapitel wird wieder die Verbindung mit dem Lebensfluss-Modell gesucht, eine Idee, die sich durch das ganze Buch durchzieht.

So endet das Buch auch mit kurzen Ausflügen in die Bereiche Pädagogik, Ergotherapie und Supervision /Coaching. Alles in allem hält das Buch was es verspricht, viel Praxis und Methoden, die im Alltag einer psychotherapeutischen Praxis verwendet werden können – ein Lehrbuch der Praxis.

Es lohnt sich, einen Stift zu haben

Schreiben in der systemischen Therapie und Beratung
Carmen C. Unterholzer, Carl-Auer Verlag 2017
Buchrezension von Martin Ritsch

Und es macht einen Unterschied, wenn KlientInnen in der Therapie schreiben. Dies wird im gerade erschienenen Buch von Carmen Unterholzer über das Schreiben in der systemischen Therapie mehr als deutlich. Und der Unterschied ist sehr unterschiedlich und vielfältig – wie das weite Feld der Psychotherapie selbst.

Carmen Unterholzer gibt in einer feinen und konzentrierten Darstellung Auskunft über die geschichtliche Entwicklung schreibtherapeutischer Methoden in den unterschiedlichen Therapierichtungen. Damit erhält die LeserIn einen fundierten Überblick und ein Gefühl für die schreibtherapeutische Szene einst und jetzt.

Dabei wird deutlich, die Schreibtherapie ist so unterschiedlich in Vorgehen und Haltungen wie die einzelnen therapeutischen Ansätze, die dahinter stehen. Und natürlich wird auch das Verbindende der einzelnen Richtungen sichtbar, schulenübergreifende gemeinsame Einsichten wie zum Beispiel die Teile-Arbeit, das Internalisieren oder Verankern von Lösungsmöglichkeiten.

Ein weiteres Kapitel ist den verschiedenen Textsorten gewidmet, die in der Schreibtherapie verwendet werden können. Die Darstellung dieser unterschiedlichen Textsorten zeigt die Vielfalt der Einsatzmöglichkeiten auf und regt an, Neues im therapeutischen Alltag auszuprobieren. Neben bekannten Textsorten wie Brief und Tagebuch werden auch unkonventionelle Sorten wie Manifeste und Beipackzettel beschrieben.

Neben dem Einsatz in der Einzeltherapie – in der Therapiestunde selbst sowie als Aufgabe zwischen den Stunden – liegt eine Stärke des Buches in der detaillierten Beschreibung eines gruppentherapeutischen Einsatzes der Schreibtechniken. Sehr strukturiert mit vielen Anleitungen und einem roten Faden werden unterschiedliche Formate beschrieben, die unmittelbar einsetzbar erscheinen.

Doch Schreiben allein ist zu wenig. Es lohnt sich nicht nur den Stift zu bemühen, sondern genau zu überlegen, was in welchem Kontext sinnvoll erscheint. Schreiben kann im falschen Kontext sogar schädlich werden, negative Erfahrungen können sich verfestigen wie die „Rille einer Schallplatte.“

Die Transformation des Geschriebenen ist der entscheidende Faktor, der Wirkung in den therapeutischen Prozess bringt. Die bestimmte Gestaltung eines Textes, die Verschiebung des Fokus oder ein Perspektivenwechsel bringt den persönlichen Abstand, einen neuen Überblick, neue Einsichten und Lösungen für den Alltag. Und nicht jedes Problem ist geeignet für schreibtherapetische Interventionen wenn es nach Carmen Unterholzer geht. So problematisiert sie den Einsatz im Bereich einer depressiven Störung. Vielleicht ist hier aber auch die Wahl des schreibtherapeutischen Mittels entscheidend und mehr an Entwicklung verfeinerter Methoden möglich.

Das Buch bietet auch einen wunderbaren Überblick über systemisches Arbeiten in der Psychotherapie, für Kenner eine gute systemische Auffrischungs-Imfpung, für andere vielleicht eine willkommene Gelegenheit sich mit systemischen Interventionen bekannt zu machen.

Der schreibtherapeutische Ansatz hat viele Vorteile, besonders deutlich wird im Buch von Carmen Unterholzer die konsequente Aktivierung der eigenen Ressourcen von KlientInnen und die Stärkung des Selbstwerts und der Selbstwirksamkeit im Erleben der Produktion eigener Texte. Und dies erleichtert nicht zuletzt die therapeutische Arbeit – eine klassische win-win-Situation also, die ich nur empfehlen kann.

Kann ich einen Eisbären

Christoph Thoma, Iskam-Verlag 2012, Amstetten
Buchrezension von Martin Ritsch

Er lässt sich wieder einmal nicht einordnen, dieser Thoma.

Wieder hat er ein Buch vorgelegt, das uns viele Rätsel aufgibt. Ist es ein Fachbuch, einfach schöne Literatur, sind es Kurzgeschichten oder ist das verbindende Element so stark, dass es nur als Ganzes betrachtet werden kann?

Das Buch handelt von vielen Geschichten, die irgendwie mit Eisbären zu tun haben, immer an der Grenze vom Realen zum Metaphorischen. Die beim Lesen anfänglich von mir erlebte Fixierung auf das Eisbärthema löst sich mit der Zeit in der Funktion eines roten Fadens auf, der die kurzen Geschichten tiefsinnig und dann doch elegant zu einem Ganzen verbindet.

Es ist der therapeutische Blick und die Berührung, die mich beim Lesen fasziniert hat. So wie der Eisbär am Cover den Jungen erblickt und zugleich den Jungen berührt, zugleich von ihm erblickt und berührt wird, so handelt das Buch von Menschen, die ungewöhnlich menschlich und therapeutisch behandelt werden und handeln.

Das Buch steht in der Tradition der faszinierenden Fallgeschichten von Milton Erickson, der – wie schon im vorangegangenen Roman Kuhschwanzziehen –  als Erik Miltenson und Protagonist im Buch eine Referenz auf das große Vorbild darstellt. Aber auch ein anderer namhafter Therapeut aus Österreich tritt unschwer erkennbar auf.

Neben vielen arktischen und sozialen Gefahren lauern noch zwei weitere im Buch. Zum einen ist man versucht, das Buch viel zu schnell zu lesen. Ich habe mich bewusst zurückhalten müssen, um nicht zu schnell fertig zu werden, um nicht zu viel zu versäumen.

Thoma lässt nämlich alles weg, was nicht unbedingt notwendig erscheint, vom Kontext, vom Inhalt, vom Anfang oder vom Ende. Der Leser ist aufgerufen, die fehlenden Teile zu finden und dadurch den tiefen Sinn erst zu fassen.

Die zweite Gefahr liegt darin, dass durch die Reduktion die therapeutischen Interventionen zu guruhaft und nicht-erlernbar oder gar realitätsfremd erscheinen könnten. Selbst für systemische Psychotherapeuten wirkt das therapeutische Vorgehen oft ungewöhnlich und gewagt. Dabei ist wahrscheinlich wenig Erfundenes, sondern viel mehr selbst Erlebtes und gelebte Praxis im Buch verarbeitet.

 Die konsequent zugrunde liegende Haltung und Vorgehensweisen werden nicht erklärt, sind aber bei genauem Hinsehen immer spürbar. Hier handelt es sich um den kreativen Einsatz strukturierter Methoden, mit der Betonung auf kreativ, aber doch strukturiert.

Und dann und eben dadurch ist das Buch einfach schöne Literatur.